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  • Robert Enz

Später werde ich ... garantiert was anderes

Aktualisiert: 29. Dez. 2020


Denn mit Prognosen ist es so eine Sache. Also schicken agile Ansätze Sie auf die Kurzstrecke.


 

Kleine Kinder fragt man gerne, was sie, wenn Sie denn groß sind, einmal werden möchten. Über gesicherte Angaben, zu welchem Anteil aus kindlicher Vision Realität wird, verfügen wir nicht. Die verzweifelten Werbungsbemühungen Freiwilliger Feuerwehren aber, Notstand an Ärzten und Polizisten sowie die versammelte Personalstärke internationaler Ballettensembles legen den Verdacht nahe, dass wir uns am ehesten im Promillebereich bewegen. Umgekehrt registrieren wir erfreut, dass uns von irgendwoher Mechatroniker, Full-Stack Developer, Destillateure und Kommunikationsdesigner zuregnen.


Schnell bei der Hand Gründe für die Zielungenauigkeit in der beruflichen Zukunftsschau: Ein noch enger Erfahrungshorizont, der sich im Laufe des Lebens weiten und neue Perspektiven öffnen wird. Technologischer Fortschritt und in ständiger Metamorphose begriffene Märkte, die immer neue Branchen, Berufe, Fachrichtungen hervorbringen. Erfolge und Scheitern, positives und negatives Feedback beim Erproben der individuellen Fähigkeiten. Motivierendes und Demotivierendes. Prägende Begegnungen, einschneidende Erlebnisse, Zufälle einfach: All das Unvorhergesehene und Unvorhersehbare, das unser Leben ausmacht. Fachsprachlich: Emergenz.


Wir wissen nichts und navigieren auf Sicht. Im Leben. Im Beruf verhalten wir uns anders – und werfen eine bewährte Strategie über Bord. Denn was sich im Leben als Erfolgsmodell erwiesen haben mag, gilt uns im unternehmerischen Kontext als unseriös. Bereits das so alltägliche "keine Ahnung!" geht uns bei der Arbeit als in keiner Weise ehrenrühriges Eingeständnis seherischer Minderbemittlung schwer über die Lippen. Und wer um einen Projektzuschlag wirbt, spickt die Vorstandsvorlage lieber mit fiktiven Zahlen als argumentativ auf eine sehr greifbare schlagende Tagline, ein unwiderstehliches Angebot an den Markt zu setzen.


Dabei sind die Gewässer, in denen wir unternehmerisch schiffen, vom selben Charakter wie die des Lebens: In hohem Grade unsicher, volatil, unabsehbar und in ihren Bedingungsfaktoren komplex. Keine Umwelt für langfristige Prognosen und Planung. Grund zur Beunruhigung? Mitnichten. Im Gegenteil ein unermesslicher Ozean an unternehmerischen Chancen. Sofern Sie eine Strategie wählen, die Ihrer instabilen und eigendynamischen Umwelt angepasst ist.


Strategischen Zugang erhalten Sie über zwei Eingeständnisse, die nicht eben auf der Linie westlichen Denkens liegen: Unsere Marktumgebung ist nicht kontrollierbar, und unser Wissen im besten Falle auf Vergangenheit und Gegenwart beschränkt. So fern unserem Mechatroniker als Kind pneumatische Steuerungssysteme lagen, so wenig hatten in den 90ern ein kalifornischer Online-Buchhändler cloudbasierte Webservices oder ein benachbarter PC-Hersteller die Musikindustrie auf dem unternehmerischen Radar. Dass sie heute dennoch in zahlreichen Geschäftsfeldern reüssieren, ist Ergebnis der richtigen strategischen Ableitung aus der Einsicht, dass wir mehr nicht wissen als das wir wissen.


Das führt uns zurück auf unser natürliches Verhalten: Wie nämlich agieren wir in Situationen völliger Ungewissheit? Wenn wir uns etwa im Dunkeln oder in freier Wildbahn orientieren? Ganz auf unsere Sinne zurückgeworfen sind? Eben diese einsetzen! Mit ihnen nach Informationen unserer Umwelt ausgreifen, indem wir alle Aufmerksamkeit nach außen kehren. Angespannt über alle Kanäle die Umgebung beobachten. Vortasten. Wenige Schritte tun, innehalten und Positionsdaten abgleichen. Feedback einholen: Erfolg oder nicht Erfolg? Weiter in die Richtung oder Kurs anpassen? Inspect and adapt. Trial and Error. Wissen kaufen, indem wir Erfahrungen herbeiführen. Unentwegtes Lernen. Neu-Gier!



Wer lernen will, darf Erfahrungen nicht scheuen. Und sollte eine Strategie vorhalten, das Risiko zu minimieren. Gilt für unsere frühen Erkenntnisse wie für die Produktentwicklung – agiles Herangehen ist uns quasi in die Wiege gelegt.

Ungewisse Umgebungen erfordern eine explorative, adaptive Strategie. Im unternehmerischen Kontext bedeutet das die Ausrichtung aller Sinne auf potenzielle Kunden. Nicht auf gestrige Kunden mit gestrigen Bedürfnissen, denen der alte Ford auf die fiktive Frage nach ihren Wünschen die Bestellung schnellerer Pferde in den Mund legte. Keine geringere Herausforderung als, eingeschlossen in den Horizont der Gegenwart, die Zukunft zu imaginieren. Neue Opportunitäten wahrzunehmen, wo niemand einen Bedarf artikuliert hat. Das geht nur durch genaues Beobachten. Und durch die Umsetzung selbst geringfügiger seismischer Wahrnehmung in unternehmerisches Handeln – auch ohne vorausgegangene Marktanalyse und Business Case.


Denn weder jene noch dieser liefern in einer unsicheren Umwelt irgendeinen Mehrwert. Beide aber verbrauchen Ressourcen und verursachen immense Verspätungskosten – Cost of Delay. Verschwendete Zeit. Versäumte Erlöse. Wie viele Chancen hat Ihre Organisation ausgelassen, weil Ihnen der ohnehin fiktive Business Case nicht "stichfest", nicht "beweiskräftig" schien? Wie viele Projekte haben Sie umgekehrt auf Basis gewollter, allzu optimistischer Prognosen in Angriff genommen, um am Ende eines hohen Entwicklungsaufwandes die vorab unterstellte Resonanz im Markt zu verfehlen – und alles einzustampfen?


There is no reason for any individual to have a computer in their home.

Ken Olson, chairman and founder of Digital Equipment Corp., 1977.


Exploratives, adaptives Vorgehen erkauft dementgegen Wissen durch spontanes, kurzentschlossenes Hinstellen eines Werts: Um rasch Feedback des Kunden oder des Marktes einzusammeln und sogleich in eine überarbeitete und erweiterte Version umzusetzen. Bereitstellen, Feedback einholen, anpassen, um neue Features erweitern. Zwei Schritte nach vorne, innehalten, beobachten, lernen, erneute Schritte. Inspect and adapt. Trial and Error. Empirische Prozesskontrolle. Produktentwicklung als kognitive Evolution. Nachgebildet unserem natürlichen Verhalten. Das Erbe eines evolutionären Stadiums ist, in dem Beweglichkeit, Gelenkigkeit, Wendigkeit – kurz: Agilität – noch im ganz physischen Sinne überlebenswichtig waren.


Kommerziell sind sie das aus unternehmerischer Sicht auch heute. Weshalb es nützt, dass Agilität in Scrum, Design Thinking und Kanban methodische Objektivierungen gefunden hat. Methode aber spielt sich immer nur auf der Oberfläche einer Organisation ab. Wie das Blätterwerk eines Baumes benötigt sie Zuleitungen, ein Versorgungsnetz, das tief in die Organisation führt und jene Nährstoffe transportiert, die es braucht, ein immer sich erneuerndes Grün Richtung Himmel zu senden. Ohne dieses Versorgungssystem werden Ihre Blätter, so sie denn überhaupt einmal sprießen, umgehend welk, um alsbald ersatzlos herabzufallen.


Eine Erfahrung, die Sie gemacht haben werden und immer wieder machen werden, wenn Sie Methoden adaptieren, ohne die Paradigmen Ihrer Organisation zu verändern. So konnte etwa im Falle von Lean, was sich im fernen Osten seit Jahrzehnten als fruchtbarer Dünger bewährt, im Westen die Wirkung eines zuverlässigen Entlaubungsmittels entfalten.


Sie ahnen es: Auch Scrum bringt Ihnen keine Ernte, wenn Sie nicht zuvor den Acker bestellt haben. Und das bedeutet, die internen Paradigmen – über Jahrzehnte bis zur Bodenversiegelung in die Organisation gewalzt – gründlich umzupflügen. Über lange Zeiträume kultivierte individuelle und institutionelle Verhaltensmuster abzulegen. In Erlösen zu denken statt in Kosten. Weder a priori-Beweise noch Langfristplanung einzufordern, wo es Produktentscheidungen zu treffen gilt. Bejahend und schnell zu scheitern. Abstand zu nehmen von dirigistischen und interventionistischen Praktiken. Autonomie zu gewähren. Idle time zu fördern. Raum zu lassen. Lernen zu ermöglichen. Kritizismus in der Organisation heranzubilden. Vertrauen zu etablieren. Mit einem Wort: Bedingungen für Kompetenzarbeit zu schaffen.


Veränderungen von immenser Tragweite für Ihre Organisation. Und kein Zaubertrank, der, leichten Schluckes einverleibt, umgehend Wirkung entfaltet. Andererseits: Was individuell und mühsam angeeignet ist, ist schwer zu kopieren und mithin ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil.


How can you catch up with someone that is all the time gaining speed?

Ähnlich wie Sie sich als Musiker durch Improvisation leichter unterscheiden als indem Sie vom Blatt spielen. Das erfordert den Mut loszulassen. Den uns Miles Davis, einer der Großen, sogleich zurückgibt:


Do not fear mistakes. There are none.

Denn für Davis machte erst der nächste Ton den vorangegangenen zu einem Fehler. Scheitern also ausgeschlossen. Sofern wir trainiert haben, geistesgegenwärtig zu sein, spontan zu reagieren, situativ zu entscheiden, uns systematisch leichtfüßig zu bewegen, unablässig Haken zu schlagen.


Alternativen zum Wandel? Nun, wir können natürlich den Horizont unserer Kindesjahre verteidigen. Und uns in einer Welt verbarrikadieren, die im Wesentlichen aus Feuerwehrleuten und Polizisten besteht. Das verspricht immerhin Sicherheit. Wenigstens auf Zeit. Solange nämlich den Jungs und Mädels in den Valleys dieser Welt nichts einfällt. Wovon auszugehen eine kühne Prognose ist ...



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