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  • Robert Enz

Advantage Agile? Außenansichten eines Diskurses ohne Asse

Aktualisiert: 29. Dez. 2020


Wer zu Karrierezeiten der Tennisspielerin Anna Kurnikova herausfinden wollte, gegen wen die Russin eigentlich spielte, brauchte in der Regel einige Minuten Geduld. Ungefähr bis zum Ende des Aufschlagspiels. Egal, welche der beiden Kontrahentinnen gerade servierte. Meist kam Kurnikovas Gegenüber erst zu einem Zeitpunkt ins Bild, als der Zuschauer bereits unweigerlich mutmaßte, das Kamerastativ müsse festgerostet sein oder die Russin trete heute gegen eine Wand an.


 

Tatsächlich lagen die Dinge einfacher und hatten ihre Ursache in Kurnikovas anmutiger Erscheinung. Die der Öffentlichkeit nachweislich nachhaltiger in Erinnerung geblieben ist als die sportliche Karriere der Russin, die – ein Genie im Doppel – im Einzel zeitlebens ohne Titel blieb. Erfolge auf dem Court hin oder her: Die Fernsehmacher hatten verstanden – Sex sells!

Wer in diesen Tagen den in Unternehmensöffentlichkeiten so engagiert wie unwissend geführten Diskurs über Lean und Agile verfolgt, mag sich in Kurnikovas Zeiten zurückversetzt fühlen. Mit einer gewissen chronistischen Berechtigung sogar: Denn die frühen Karrierejahre der Russin fallen in die Geburtsstunde jener beiden Begriffe, die spätberufene Laien heute diskursiv gegeneinander auszuspielen suchen: Lean und Agile.


Ein Diskurs, dem die Tendenz innewohnt, Lean zugunsten von Agile aus dem Bild zu drängen wie einst der Kameramann Kurnikovas wie brillant auch immer agierendes Pendant auf der anderen Seite des Netzes. Das hat Ursachen, die tiefer liegen als der verheißungsvoll lässige Klang, der den Diskursteilnehmer mit der höchsten Agile-Frequenz ziert wie eine gut sitzende Sonnenbrille – wenigstens in rhetorischer Hinsicht. Vielmehr öffnete ein so unglücklicher wie nachhaltig wirksamer Umstand die Flanke zur diskursiven Gegeneinandersetzung von Lean und Agile: Dass nämlich Idee und Konzept – jeweils im Singular! – hinter den Begriffen bis heute nicht verstanden sind. Während faktisch, zurück zu unserer Analogie, Kurnikova und ihr Gegenüber dasselbe Spiel spielen: Tennis. Steht entsprechend Agile auf dem Court, steht immer auch Lean auf dem Platz. Doch verfolgen wir zunächst noch ein paar Ballwechsel.


Terminologisch verweisen uns Lean und Agile also an das ausklingende 20. Jahrhundert. Kenner wissen, dass die Geschichte nicht erst hier beginnt: Die Beiträge amerikanischer Ökonomen, die in den 90ern den Begriff „Lean“ popularisierten, beschreiben im Wesentlichen das zwischen 1948 und 1973 durch T. Ohno unter führender Mitwirkung des amerikanischen Physikers W. E. Deming ausgestaltete Toyota Produktionssystem (TPS). Dieser Bezug gilt nicht nur für Lean: Deming und das TPS sind der Referenzpunkt auch aller sich seit Mitte der 90er in der Software-Entwicklung unter dem Oberbegriff „Agile“ formierenden Ansätze. Ob Scrum, DevOps, eXtreme Programming, Software Kanban oder die unübersichtlich sprießenden Frameworks agiler Skalierung (LeSS, SAFe, Nexus u. a.): Sie alle deklinieren die identischen, dem TPS entlehnten Prinzipien durch die unterschiedlichen Anwendungsfälle und benennen ihre Quelle.


Kenner wissen auch, dass es in dieser bis in die Gegenwart sich fortschreibenden Geschichte, die gerade ihr spannendstes Kapitel erreicht, um weit mehr geht als einfach um ein Set an Methodik zur kundenorientierten Beschleunigung jeder Art von Produktion. Vielmehr begleitete Lean-Agile den Übergang von der Industrie- zur Kompetenzgesellschaft und wirft in der Gegenwart Fragen grundsätzlicher Natur auf, mündend in einer Flut von Beiträgen zu einem Organisationsdesign, das Kompetenzarbeit begünstigt.


Ein Erdrutsch, denn die noch aus der Industriegesellschaft hergebrachte und bis heute vorherrschende Pyramide kommt in diesen Studien mit guten Argumenten schlecht weg: Argumente, denen sich nicht verschließen kann, wer den Wirtschaftsteil aufschlägt oder aus eigener Erfahrung mit dem Innenleben klassisch geordneter Organisationen vertraut ist. Skandale, Kostensenkungsprogramme und Innovationsmangel sind hier ebenso chronisch wie systematisch. Ergebnis einer Struktur, die den längst obsoleten Rahmenbedingungen oder als irrig erwiesenen Grundannahmen der Industrialisierung verhaftet ist.


Diese hatte im 19. Jahrhundert Märkte vorgefunden, die nach Gütern dürsteten wie die Wüste Gobi nach Wasser, und sich einer unablässig vom Lande zuströmenden, nicht alphabetisierten Arbeiterschaft bedient. Voraussetzungen, die Massenfertigung, kollektive Ausbeutung und einen auf Anweisungen, Kontrolle, Disziplinierung und Bevormundung bis ins Private basierten Führungsstil hervorbrachten. Kein goldenes Zeitalter für Bedienstete und Kunden – beide nicht in der Position, Ansprüche zu stellen.


Sozio-ökonomische Systeme, die die Bedürfnisse des Menschen ignorieren, überholen sich früher oder später selbst. So hatten es auch Industriebarone und staatliche Obrigkeit bald mit einer aufbegehrenden, zunehmend selbstbewusst eigene Interessen wahrnehmenden Arbeiterschaft zu tun. Und sahen sich zu Zugeständnissen genötigt: Sozialversicherung, Gewerkschaften, sozialistische und sozialdemokratische Parteien, Achtstundentag – Gerüst noch unserer heutigen Wirtschaftsordnung.


Die sich gegenüber dem Zeitalter der Industrialisierung nicht nur beträchtlich ausdifferenziert, sondern strukturell verändert hat: Märkte wurden komplexer, Kundenbedürfnisse spezifischer, Produkte technisch anspruchsvoller, Arbeit qualifizierter, die Industriegesellschaft entwickelte sich zur Dienstleistungsgesellschaft; im Ergebnis der mikroelektronischen Revolution dominiert die Techbranche die Welt, während sich einstige Industriekonzerne wie etwa Bosch heute schwerpunktmäßig mit Software-Lösungen beschäftigen. Kurzum: Immer mehr Menschen arbeiten mit dem Kopf, immer weniger mit den Händen. Die Diktatur des Proletariats entfällt aus Mangel an Arbeitern.


Zu deren Gunsten sich die Verhältnisse nicht erst mit Heraufdämmern des Computer-Zeitalters verkehrten. Den Ruinen eines für das Land verhängnisvollen Weltkriegs entsteigend, übersetzte ein japanischer Automobilhersteller die Erkenntnis, dass es selbst am Fließband keine kontinuierliche Verbesserung ohne die Expertise und das Know-how der Angestellten gibt, in das eingangs erwähnte Toyota Produktionssystem (TPS). Eine industrielle Zeitenwende: Konsequente Kundenorientierung, Pull-Produktion, One-Piece-Flow, Just in Time, Kanban, Mass Customization, Kaizen. Vor allem aber: Die Verheiratung des Industriekapitalismus mit dem Humanismus. Der Übergang von einem das Individuum und dessen Bedürfnisse verachtenden System zu einer sozio-ökonomischen Ordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt: No Layoff-Policy, Führung als Dienst am Mitarbeiter, partnerschaftliche Kollaboration über – auch externe – Schnittstellen der Wertschöpfungskette hinweg, Förderung des Mitarbeiters in der Entfaltung seiner höchsten Fähigkeiten, Sinn und gesellschaftliche Verantwortung anstelle des Profits um des Profits willen.


Kurz: Stakeholder-Orientierung statt Shareholder-Lastigkeit. Ein System, mit dem sich Programme zum Personalabbau ebenso wenig vereinbaren wie Knebelverträge mit Lieferanten, Steuerflucht und Umweltverschmutzung. Kaum Wunder, dass das kommerziell so erfolgreiche TPS weltweit Faszination entfaltete, nachdem Taiichi Ohno sich in den 70er Jahren – charakteristisch genug – hingesetzt hatte, die Rezeptur des Erfolges für die Weltöffentlichkeit – also auch für die Konkurrenz – niederzuschreiben: Toyota wurde rund um den Globus zum Mythos und steht bis heute Pate für die Überlegenheit und unaufgeregte Souveränität eines ethischen Kapitalismus. Niemand in der Industrie hatte über die Jahrzehnte loyalere Kunden, niemand eine engere Beziehung zu seinen Lieferanten, niemand einen vergleichbar familiären internen Zusammenhalt, niemand mehr Patente – und niemand verbuchte höhere Gewinne. Während sich andere durch Zukäufe aufblähten, wuchsen die Japaner organisch an die Spitze. Jeffrey Liker, Professor an der University of Michigan, widmete dem Unternehmen gleich ein halbes Dutzend Bücher und damit quasi sein Lebenswerk. Zuvor – wir sind zurück in den 90ern – hatten James Womack und Daniel Jones das TPS unter dem Header „Lean“ terminologisch globalisiert.


Mit ernüchternden Folgen. Weniger gründlich nämlich als der akademische Betrieb rezipierten die Führungsetagen westlicher Konzerne Toyotas Respect for Humanity System. Und verkehr(t)en Lean in das gerade Gegenteil seiner Idee. Verfremde(te)n, vergewaltig(t)en, entstell(t)en das Konzept zur Unkenntlichkeit. Ein halbes Jahrhundert nach Ohnos Aufklärungsinitiative stehen westliche Unternehmen dem postmodernen pluralistischen Paradigma so fern wie je: Verhandeln Lieferanten an den Rand der Insolvenz, drücken Personalkosten, hinterziehen Steuern, täuschen Kunden, faken Umweltbilanzen, bestechen Betriebsräte, überwachen Mitarbeiter. Mit einem Wort: Opfern systematisch die Interessen der Stakeholder dem auch nur kurzfristigen Nutzen des Shareholders. Dumm genug. Schlichtweg zynisch aber: Im auf dem Rücken von Angestellten und Lieferanten ausgetragenen Teil jener Praktiken unter den Überschriften „Lean“ oder „Continuous Improvement“.


So kommt Lean zu seiner fragwürdigen Reputation und erfreut sich ganz ohne eigenes Zutun in Belegschaften der Beliebtheit eines Stinktiers oder einer hartnäckigen Gürtelrose. Wir aber kehren an diesem Punkt zurück auf den Centre Court, wo sich in einer unverändert unterhaltsamen Partie Kurnikova und ihre Kontrahentin in die Ecken schicken.


Unterdessen nämlich haben unsere Managements festgestellt, dass sich – was Wunder – mit Fake-Lean bereits in mittelfristiger Perspektive keinerlei wünschenswerte Effekte einstellen. Also ist die Braut uninteressant. Wie gut, dass soeben eine neue ins Blickfeld gerückt ist – von unwiderstehlicher Grazie dazu. Die man also gleich mal auf die andere Seite des Netzes stellt, zur Widersacherin der Verflossenen erklärt und zur neuen Heilsbringerin erhebt: Also alle Kameras auf Kurnikova! Lean OFF, Agile ON! Out gegen In! Gut gegen Böse! Kurnikova gegen Who the Fuck! Rocky Balboa gegen Ivan Drago!


Aber: Wer so Tennis schaut, hat das Spiel nicht verstanden. Im Tennis stehen die Akteure in ununterbrochener Wechselbeziehung: Jeder Schlag beantwortet den vorigen, zitiert eine Spielsituation. Die Protagonisten bewegen sich in einem gemeinsamen Kontext, auf einem symmetrisch gespiegelten Spielfeld, respektieren ein Regelwerk, schöpfen aus demselben Repertoire an Schlägen und Techniken: Vorhand, Rückhand, Drive, Topspin, Volley, Slice, Cross, Longline, Stop, Lob, Smash.


Die identische Erfahrung hat gemacht, wer aus Theorie und Praxis mit den einschlägigen Continuous Improvement-Ansätzen vertraut ist. Ob Lean, Scrum, Design Thinking, Six Sigma, XP, Kanban, DevOps, ToC, OpEx, Lean Startup, DaD, ScALeD, LeSS oder SAFe – jeweils jonglieren die Frameworks dieselben, dem Toyota Production System entlehnten Werte, Prinzipien und Techniken: Respekt vor dem Menschen, Nachhaltigkeit, Gemeinnützigkeit, Offenheit, Transparenz, kontinuierliche Verbesserung, lebenslanges Lernen, Kundenorientierung, Wertmaximierung, iteratives Vorgehen, Fluss, Qualität, Innovation, Kritizismus, Selbstorganisation, Kollaboration, Servant Leadership, gemeinsame Verantwortung, Visualisierung, Fast Feedback, Grundursachenanalyse, Pull, Eliminierung von Verschwendung, Reduzierung von Inventar, Liegezeiten-Minimierung, Engpass-Management, empirische Prozesskontrolle … Mit einem Wort: So wenig eine einzige Tennisspielerin auf dem Platz, ein einzelner Boxer im Ring stehen kann, so wenig kann ein beliebiger Continuous Improvement-Ansatz isoliert, ohne Bezugnahme auf die anderen in Anwendung sein.


Keine Erkenntnis, die Experten die Schuhe auszieht. Streng genommen: Für Experten überhaupt keine Erkenntnis. Der Umstand aber, dass Managements zwischen Lean und Agile eine willkürliche Linie ziehen und hieraus Handlungen – meist politisch motivierte Silo-Initiativen – ableiten, führt auf eine grundlegende Dysfunktion pyramidaler Organisationen in der Kompetenzgesellschaft: Know-how und Entscheidungsbefugnisse liegen nicht mehr am selben Ort.


Unsere Spielerinnen stehen mit bloßen Händen auf dem Platz, während ihre Manager abseits mit dem Schläger herumfuchteln. Das erschwert den Experten nicht nur chronisch die Arbeit, sondern führt auch zu systematisch schlechten Ergebnissen: Wo es den Experten nicht mindestens gelingt, Kontrolle über die Führungshand ihrer Manager zu gewinnen, landet kein Ball im Feld. Im Fall von Lean hat die Filzkugel nicht mal mehr das Festland erwischt. Keine ehrenhaftere Pleite steht somit für die vollmundig heraufbeschworene „agile Transformation“ (der Terminus allein lässt Schlimmes fürchten) zu erwarten.


Der Autorität des Managements in der Organisation nicht eben zuträglich. Dem Vertrauen der sich aus Erfahrung längst wegduckenden internen Öffentlichkeit in den jeweils vorgeführten Schlag ebenfalls nicht. Deshalb werden weise Führungsetagen zunächst lernen, beim Thema Lean-Agile den Experten aus dem Weg zu treten wie einst der Große Alexander dem Diogenes aus der Sonne. Und die Sache denen anzuvertrauen, die sich professionell befasst haben. Idealiter wird sich abseits des Weges ein guter Aussichtspunkt einnehmen lassen, der den Blick auf etwaige Hindernisse freigibt. Die proaktiv wegzuräumen das Management im Sinne der Servant Leadership seine höchste Bestimmung findet. So wie der altersweise Jack Welch, der über Jahrzehnte dem Mammon hinterherjagen musste, um sich zuletzt etwas kleinmütig in die – unter seinen geistigen Jüngern in Aufsichtsräten und Vorstandsetagen wenig beachtete – Einsicht zu fügen:


Bei Licht betrachtet ist Shareholder Value die dümmste Idee der Welt – Shareholder Value ist ein Ergebnis, keine Strategie ... Um es zu erreichen, musst du dich auf deine Angestellten konzentrieren, auf deine Kunden und deine Produkte.

Na also. Schließen wir noch Lieferanten, Umwelt und Gesellschaft in den Kreis der Anspruchsberechtigten ein, und ein später, aber hoffnungsvoller Anfang ist gemacht. Advantage Know-how!




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