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Robert Enz

Machen Sie lokaler Optimierung den Prozess!

Aktualisiert: 29. Dez. 2020


Ein Gedankenexperiment, entlehnt vom gewitzten Organisationstheoretiker Russell Ackoff: Aus einem Fuhrpark an Autos wählen Sie die jeweils besten Teile der einzelnen Modelle aus und schrauben sie zu einer neuen Einheit zusammen. Was erhalten Sie? Nun, im besten Falle ein Konstrukt, das sich der Erscheinung nach als Fahrzeug klassifizieren lässt. Mit Sicherheit aber kein fahrtüchtiges Auto. "Na klar!" ...


 

... höre ich Sie einwenden. "Fertigung. Die Teile müssen schon zusammenpassen, aufeinander abgestimmt sein!" Schließlich handelt es sich bei einem Fahrzeug um ein System: Wir können nicht einfach die Einzelteile, mögen sie noch so hochwertig sein, in eine Tonne schmeißen, dreimal schütteln und hoffen, dass das Ergebnis fährt.


In einem System ist das Ganze nicht einfach die Summe seiner Einheiten. Stattdessen gilt es, die Einheiten in Bezug zueinander zu setzen: Jedes Teil bildet eine Funktion ab und verfügt über das Potenzial, zum Gelingen des Systems beizutragen. Diese Möglichkeit aber realisiert sich erst in der Verzahnung der einzelnen Funktion mit den anderen Funktionen des Systems. Ein Motor für sich ist ein Motor und taugt – zu nichts. Und das ganz unabhängig davon, ob er nun eine Leistung von 45 oder von 1.000 PS abbildet.


Aus Ihren 1.000 PS werden Sie auch dann keinen Nutzen ziehen, wenn Sie Ihren Motor in einem Kleinwagen verbauen: Weder wird er, stromaufwärts betrachtet, hinreichend beliefert werden, um seine Leistung zu entfalten, noch wird er stromabwärts die Voraussetzungen vorfinden, um die Kraft auf die Straße umzusetzen. Analog helfen Ihnen im Sprint die dicksten Oberschenkel nichts, wenn Ihr Herz-Kreislauf-System die Muskeln nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt.


Ergo: Wo wir es mit Systemen zu tun haben, muss unser Augenmerk dem Ganzen, der Interaktion der Einzelteile gelten. Nicht die Leistungsfähigkeit der Einzelkomponenten bestimmt die Performance des Systems, sondern das Zusammenspiel der Komponenten. Richtig: Der SC Freiburg kickt in der Bundesliga! Und Einwand abgeschlagen: Die Mannschaft mit den teuersten Spielern holt nicht automatisch den Titel. Sondern ebenfalls nur unter der Voraussetzung gelingender Interaktion. Weshalb auch am zugehörigen Trainer ein größeres Preisschild zu hängen pflegt. Und weshalb nominell beeindruckend besetzte Teams immer mal wieder eine ziemliche Grütze spielen, während Italien ...


The performance of a system depends on how the parts fit, not how they act taken seperately.

R. Ackoff: Dr. Akoff (sic) & Dr. Deming – Tapes.


Was uns nun für das Auto, den Organismus und auf dem Sportplatz so eingängig erscheint, bereitet uns im Übertrag auf unsere Organisationen – vom Unternehmen über die Behörde, die Gesundheits- oder Bildungseinrichtung, die Partei bis hin zum Verband und Verein – erstaunliche Schwierigkeiten. In allen Fällen handelt es sich um Systeme, deren Funktionalität nur im Zusammenspiel zahlreicher Subsysteme und Einzelkomponenten mit jeweils spezifischer Aufgabe wirksam wird. In allen Fällen bemisst sich der Erfolg des Systems nicht an Leistungsfähigkeit oder Produktivität seiner Einheiten, sondern am finalen Output des Gesamtsystems. An welcher Stelle die tief in pfälzischer Erde verwurzelte Weisheit eines langjährigen Regierungsoberhaupts in all ihrer Einfalt nützlich nachhallt: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt."


Eigentlich sehr prägnant. Im Alltag unserer Organisationen allerdings bestenfalls rhetorisch verinnerlicht. Etwa dann, wenn das Management wahlweise in Krisenzeiten oder auf der Weihnachtsfeier mit bunt schillernden Metaphern aus den Welten des Sports, der Nautik und selbst der Kriegskunst den Teamgeist beschwört: Als geschlossene Mannschaft werde man den Stürmen – sei nun die gegnerische Angriffsreihe oder tatsächlich das Wetter bezeichnet – trotzen, sich behaupten und, jaja, zurückschlagen.


Entscheidend ist auf'm Platz, und da geht es – entgegen den rhetorischen Kabinenverlautbarungen – alles andere als systemisch zu. Stattdessen stehen alle Vorzeichen in unseren Organisationen auf Subsystem- und Einzelkomponentenoptimierung.


We know that our organizations and even functional areas of responsibility are dependent systems, yet, when it comes to measuring, operating, and problem-solving within them, we continue to divide them up and segment them.

Entsprechend führen wir Ihnen in der folgenden selektiven Aufstellung vermutlich so manchen Bekannten aus Ihrem Arbeitsalltag vor:

  • Lokale Leistungskennzahlen

  • Bereichsziele

  • Interner Wettbewerb

  • "Eskalieren" an internen wie externen Prozessschnittstellen

  • Lieferanten-Management mittels Bonus/Malus

  • Individuelle Zielvereinbarungen

  • Leistungsbezogene Incentives

  • Lean-Projekte auf Bereichs- oder Abteilungsebene

  • "Effizienz"-Maßnahmen in Geschäftsbereichen

  • Werben um Absolventen renommierter Hochschulen

  • Stellenprofile, beinhaltend Persönlichkeitsattribute wie "Durchsetzungvermögen"

  • Teilprozessoptimierungen

  • Fachbereiche mit dedizierter Verantwortlichkeit für Innovation und Ideenmanagement

  • Lokale Digitalisierung und Automatisierung

  • Kontinuierliche Reorganisation.


Alles kontraproduktiv? Aus systemischer Sicht (und Ihre Organisation bleibt ein System. Behalten Sie nur immer unser Auto im Hinterkopf!): Jep. Folglich beschäftigt sich Ihre Organisation zu weiten Teilen der verfügbaren Zeit bestenfalls mehrwertneutral? Tja. Im ersten Augenblick ernüchternd. Bereits bei zweiter Betrachtung aber ein kognitiver Befreiungsschlag, denn die Erkenntnis öffnet Horizonte: Was können Sie mit all der befreiten Kapazität nicht alles erreichen, wenn Sie sie systemisch einsetzen und also das Richtige tun?! Das, was Ihrem Systemzweck – ob nun die Maximierung von Gewinnen, die Abarbeitung von Fällen, die Vermehrung von Mitgliederzahlen und Wählerstimmen, die Verabschiedung von Gesetzen oder die Versorgung von Patienten und anderweitig Hilfsbedürftigen – zuarbeitet!


Wie nun verwenden Sie Ihre kostbaren Ressourcen eben auf das Richtige? Indem Sie im Wertstrom denken. Und damit Output-orientiert. Sie erinnern sich: "Wichtig ist, was ..."! Oder genauer: Nach welcher Zeit und in welcher Frequenz es hinten rauskommt. Dafür gibt es globale Kennzahlen: Durchlaufzeit und Durchsatz.


Der Durchsatz bezeichnet die Anzahl der Zieleinheiten (Produkte, Software-Funktionalitäten, Patienten ...), die das System pro Zeiteinheit verlassen. Sofern Sie dem produzierenden Gewerbe angehören, bedeutet "das System verlassen": verkauft (und nicht: eingelagert). Generell gilt für den Durchsatz: Je höher desto besser. Schließlich möchten Sie möglichst viel verkaufen, möglichst viele Fälle bearbeiten, Gesetze auf den Weg bringen, Mitglieder werben, Menschen helfen ...


Dementgegen wollen Sie die Durchlaufzeit – die Zeitspanne, die eine Zieleinheit benötigt, um das System von Anfang bis Ende zu durchlaufen – minimieren. Je kürzer die Durchlaufzeit, desto höher in der Regel der Durchsatz. Logisch. Und doch gerade jener neuralgische Punkt, an dem Organisationen in Vergessenheit ihrer systemischen Natur zuverlässig in die lokale Optimierungsfalle tappen: Indem sie nämlich den Wertstrom entweder gleich ganz übersehen oder aber dessen Logik verkennen.


Das ist folgenschwer – und doch verständlich: Anders als in der verblühenden Industriegesellschaft ist der Wertstrom in der Dienstleistungs-gesellschaft kein Fließband mehr. Jedenfalls nicht im physischen Sinne. Selbst dort, wo Sie – im produzierenden Gewerbe – noch das Fließband vorfinden, bildet es bloß einen irgendwo mittig gelegenen Teilprozess ab, dem stromauf- wie -abwärts eine ganze Anzahl von Abläufen vor- und nachgeht: Die zueinander in Abhängigkeit stehen und erst in ihrer vollständigen Sequenz den Wertstrom ausmachen.


Die Schwierigkeit: Abseits von Fertigungshallen ist Arbeit unsichtbar. Wissensaufgaben sind nicht physisch: Weder erkennen Sie beim Rundgang durch Ihre Büros, woran die Organisation gerade arbeitet, noch wie viele Vorgänge aktuell in Bearbeitung sind, und auch nicht in welchem "Fertigungsstadium" sich diese gerade befinden, wo Ihr System fließt und wo es stockt. In der Regel kennen Sie nicht einmal den faktischen Wertstrom, die Sequenz, in der Zieleinheiten das System durchziehen. Keine Voraussetzungen, unter denen Sie es wagen wollen, irgendetwas anzufassen! Geschweige denn sich anmaßen sollten, irgendwo zu "optimieren".


In der Praxis geschieht nun aber genau das: "Nehmen wir hier mal zwei Leute raus (Auslastung steigern!). Und schieben hier mal noch einen 'rüber. Den Part automatisieren wir (kommt immer gut!), und da setzen wir 'ne Software ein (Digitalisierung: Säule der Unternehmensstrategie!). Hier outsourcen (Lohnnebenkosten!), da eine Anpassung im Organigramm (wird wohl einen Unterschied machen!). Hier ein Lean Projekt (Effizienz!), und da mal agil rangehen (hört man ja jetzt überall!). Wie wär's an der Stelle mit einem Incentive (Wer abliefert, soll auch was davon haben!)? Und dort vielleicht: Hmm, keine Ahnung! Also Benchmark! Best Practice! Irgendein neues Tool, das vielleicht gleichfalls auf "Be ..." lautet! Und ist ja auch noch Budget für 'ne Beratung da: Für sowas gibt's schließlich Spezialisten! ...".


Den Ausgang Ihrer teuren Bemühungen können Sie dann auf Ackoffs Schrottplatz besichtigen ... Und weil Sie dort nicht enden wollen: Visualisieren Sie zunächst den Wertstrom! Und machen Sie die Arbeit sichtbar: Indem Sie die Work Items in Echtzeit auf ihrem Weg durch das System verfolgen! Wenn Sie einmal hier sind, werden Sie eine frappierende Beobachtung machen: Zu sicherlich 95% ihrer Durchlaufzeit liegt jede Zieleinheit. Und wartet auf irgendetwas: Auf freiwerdende Kapazität am nächsten Prozessschritt; eine Information; eine Unterschrift; den Beschluss aus dem Review Board; den krankheitsbedingt ausgefallenen Kollegen; die anstehende Reorga; schöneres Wetter; das nächste Album von den Stones ... C'est la vie! Idle work. Teuer! Im Bild eines Staffellaufs: Der Stab liegt am Boden.


Ist das zu 95% des Rennens der Fall, bemisst sich also die Bearbeitungszeit – jener Anteil der Durchlaufzeit, zu dem das Work Item tatsächlich in Arbeit oder das Staffelholz in Bewegung ist – auf gerade noch 5 Prozent. Schminken Sie sich die Medaille ab! Egal wie schnell Ihre Sprinter rennen. Egal ob Sie Usain Bolt eingekauft oder wie viel Doping Sie Ihrem Team eingeschmissen haben. Egal wie viel Sie automatisieren, digitalisieren oder sonstwie lokal optimieren. Sie können Ihre Teilprozesse und Bearbeitungszeiten tunen wie Sie wollen: Weder werden Sie die Durchlaufzeit verkürzen noch den Durchsatz erhöhen. Und also werden Sie nichts verbessert haben: "Entscheidend ist, ...".


Für das Verhältnis von Bearbeitungs- und Durchlaufzeit sollten Sie sich dennoch interessieren! Und zwar mit dem Ziel, die Durchlaufzeit auf das Niveau der Bearbeitungszeit einzudampfen. Der Quotient aus beiden bezeichnet die Flusseffizienz – die einzig zulässige terminologische Verwendung von Effizienz im Prozessmanagement. Bringen Sie es angesichts der Vielzahl an Gliedern der Wertschöpfungskette auf einen soliden zweistelligen Wert, sind Sie beachtlich schnell.


Um dahinzukommen, reißen Sie sich von der intuitiven, aber kontraproduktiven Praxis lokaler Optimierungen los! Bleiben Sie stattdessen gedanklich im System und kümmern Sie sich um die Interaktion an den Prozesschnittstellen! Optimieren Sie den Flow, nicht die Einzelkomponenten! Halten Sie das Staffelholz, die Zieleinheit in Bewegung, nicht Ihre Mitarbeiter! Oder käme es Ihnen in den Sinn, von den Läufern Ihrer 4x100 Meter-Staffel einzufordern, über die komplette Zeitspanne des Wettbewerbs zu rennen, weil Sie die Jungs oder Mädels ja schließlich bezahlen? Eliminieren Sie deshalb Idle work (Stab liegt), nicht Idle time (Läufer steht)!


Lassen Sie es sich zudem herzlich egal sein, ob eine Schnittstelle nach innen oder – im Falle eines ausgelagerten Teilprozesses – nach außen weist: Wo der Auftrag nämlich hängt, ist dem, für den Sie den Wertstrom bauen, Ihrem Kunden, so wichtig wie dem Waschbär der Wirtschaftsteil Ihrer Tageszeitung.


Damit ist der Kunde unseren Organisationen aktuell einen großen Schritt voraus: Indem er das Unternehmen, die Regierung, die Behörde, die Gesundheits- oder Bildungseinrichtung, den Verband konsequent als ein System, als eine für die Leistungserstellung verantwortliche Einheit begreift. Und dabei die Perspektive des Altkanzlers einnimmt: Ob nämlich ein System taugt, darüber entscheidet allein, ... Sie wissen schon. Lernen Sie, auch so zu agieren!



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